Das Oberlandesgericht München erließ am 03.12.2024 einen beachtenswerten (wenn auch nicht unbedingt richtigen) Beschluss (33 W 1034/24 e). Danach hat der Pflichtteilsberechtigte keinen Anspruch darauf, die Unterlagen zu sehen, die ein Notar bei der Erstellung eines notariellen Nachlassverzeichnisses auswerten muss. Zudem befasste sich der Beschluss mit weiteren Fragen, die beim notariellen Nachlassverzeichnis immer wieder auftreten.
Der Pflichtteilsberechtigte hatte ein notarielles Nachlassverzeichnis verlangt und erhalten. Er hielt es aus den folgenden Gründen nicht für erfüllungstauglich:
- sein Zuziehungsrecht sei verletzt worden
- es liege kein übersichtliches Nachlassverzeichnis vor, da die Notarin verschiedene Nachträge erstellt habe
Kein Anwesenheitsrecht
Das OLG München befasste sich zunächst mit der Frage, ob der Pflichtteilsberechtigte ein Anwesenheitsrecht beim Notar hat. Es führte aus, dass es diese Frage nicht entscheiden müsse, weil der Vertreter des Pflichtteilsberechtigen in einem notariellen Termin anwesend war. Dennoch äußerte sich das OLG München dann noch im Rahmen eines sogenannten obiter dictums (also als Privatmeinung ohne Relevanz für den Fall) dahingehend, dass es im Gesetz keine Anhaltspunkte für ein Anwesenheitsrecht erkennen könne. Über diesen Punkt lässt sich nachdenken. Im Gesetz steht:
§ 2314 BGB Auskunftspflicht des Erben
(1) Ist der Pflichtteilsberechtigte nicht Erbe, so hat ihm der Erbe auf Verlangen über den Bestand des Nachlasses Auskunft zu erteilen. Der Pflichtteilsberechtigte kann verlangen, dass er bei der Aufnahme des ihm nach § 260 vorzulegenden Verzeichnisses der Nachlassgegenstände zugezogen und dass der Wert der Nachlassgegenstände ermittelt wird. Er kann auch verlangen, dass das Verzeichnis durch die zuständige Behörde oder durch einen zuständigen Beamten oder Notar aufgenommen wird.
(2) Die Kosten fallen dem Nachlass zur Last.
Die Zuziehung kann vermutlich ebenso sinnvoll erfolgen, wenn der Pflichtteilsberechtigte die Unterlagen in Kopie erhält oder eine sonstige Einsichtsmöglichkeit erhält. Dies wurde ihm vom OLG München aber auch versagt.
Belegeinsicht
Hoch umstritten ist die Frage, ob der Pflichtteilsberechtigte die Belege sehen darf, die der Notar zur Erstellung des Nachlassverzeichnisses prüfen muss. Das OLG München führte dazu ab Rn. 18 aus:
"Soweit vertreten wird, der Auskunftsgläubiger könne dem Notar bei der Durchsicht der Unterlagen „über die Schulter“ schauen (van der Auwera, ZEV 2008, 359 (für das einfache Nachlassverzeichnis); Burandt/Rojahn/Horn, Erbrecht, 4. Aufl. 2022, BGB, § 2314 Rn. 64a; Riedel in: Praxiskommentar Erbrecht, § 2314 BGB; Papenmeier, ErbR 2020, 783; Fleischer, ErbR 2013, 242), teilt der Senat diese Ansicht nicht.
Im Rahmen des Auskunftsanspruchs gemäß § 2314 Abs. 1 BGB besteht grundsätzlich kein Anspruch auf Vorlage von Belegen (vgl. Senat, 33 U 325/21, NJW-RR 2021, 1376). An dieser Rechtsprechung hält der Senat fest. Würde man dem Pflichtteilsberechtigten nun gestatten (und den Notar verpflichten, dies zu ermöglichen), dem Notar bei der Durchsicht von Belegen „über die Schulter“ zu schauen, würde der nicht bestehende Anspruch auf Belegvorlage faktisch leerlaufen (Koroch, RNotZ 2020, 537 (556)). Zudem könnte der Pflichtteilsberechtigte dann das Verfahren nach seinem Belieben beeinflussen, indem er sich z. B. übermäßig viel Zeit für die Durchsicht nimmt und dem Notar somit seinen Zeitplan „diktiert“. Hinzu kommt, dass durch Offenlegung der Kontounterlagen des Erblassers gegenüber dem Pflichtteilsberechtigten schwerwiegend in das postmortale Persönlichkeitsrecht des Erblassers eingegriffen wird, indem dem Pflichtteilsberechtigten Informationen zugänglich gemacht werden, die einerseits keine pflichtteilsrechtliche Relevanz haben, an deren Geheimhaltung der Erblasser andererseits aber auch nach seinem Tod ein erhebliches Interesse haben kann (Heinze, DNotZ 2019, 413).
Im Gegensatz zum Notar, der hinsichtlich der im Wege der Einsicht in die Kontounterlagen erlangten Informationen der Amtsverschwiegenheit unterliegt, sofern keine Pflichtteilsrelevanz gegeben ist (§ 18 BNotO), bestünde die Gefahr, dass der Pflichtteilsberechtigte, dem keine Verschwiegenheitspflicht obliegt, die erlangten Informationen auch an Dritte weitergibt."
Die Begründung beginnt mit einem Verweis auf einen anderen Beschluss des OLG München vom 23.08.2021, den ich hier besprochen hatte: https://blog.erbrecht-papenmeier.de/2021/11/olg-munchen-zur-belegvorlage-im.html Darin hatte sich das OLG München gegen einen Anspruch auf Belegvorlage entschieden, ohne die Frage zu thematisieren, ob es einen Anspruch auf Einsicht in die Belege gibt.
Der nächste Schritt in der Begründung des OLG München ist schlicht falsch: Wenn es einen Anspruch auf Einsicht in die Belege gäbe, dann würde der "nicht bestehende Anspruch auf Belegvorlage faktisch leerlaufen". Was? Wie kann denn ein nicht bestehender Anspruch leerlaufen? Dieser Satz zeigt, dass das OLG München die Rechtsfrage von der falschen Seite her betrachtet hat. Es gibt im Gesetz kein Verbot einer Belegvorlage. Das Gericht ist lediglich zu dem Ergebnis gelangt, dass Belege nicht vorgelegt werden müssen, z.B. weil es dem Erben nicht zumutbar ist, die Originale aus der Hand zu geben oder hunderte Seiten zu kopieren. Daraus lässt sich nichts zu der Frage ableiten, ob der Pflichtteilsberechtigte in die Belege hineinschauen darf. Im Gesetz steht, dass der Pflichtteilsberechtigte ein Zuziehungsrecht hat. Irgendetwas muss davon umfasst sein. Was bleibt nach dem Beschluss des OLG München eigentlich übrig?
Der Gesetzgeber nutzt das Wort "zuziehen" ziemlich oft. Beispiele sind:
- § 1379 Abs. 1 S. 3 BGB beim Zugewinnausgleich
- § 2121 Abs. 2 BGB beim Nacherben
- § 2215 Abs. 3 BGB beim Testamentsvollsrecker
- § 1803 Nr. 2 BGB: Zuziehung des Vormundes zur Besprechung seines Berichts
- Zuziehung von Protokollführern: § 450 Abs. 1 BGB, § 31 Abs. 1 StPO, § 168 StPO
- Zuziehung von Sachverständigen: § 168d Abs. 2 StPO
- Zuziehung eines Ergänzungsrichters: § 222a StPO
- Zuziehung eines Dolmetschers: § 272 Nr. 2 StPO
- Zuziehung der Staatsanwaltschaft bzw. des Privatklägers: § 385 Abs. 1 StPO
- Zuziehung eines Rechtsanwalts: § 397b Abs. 2 StPO
- Zuziehung als Zeuge beim Nottestament vor dem Bürgermeister: § 2249 Abs. 2 BGB
- Zuziehung eines Arztes zur Leichenschau: § 87 Abs. 1 StPO
- Zuziehung bei einer Durchsuchung: § 105 Abs. 2 StPO
Die Beispiele zeigen, dass das Zuziehungsrecht einen Anspruch auf Belegeinsicht umfassen dürfte. Mit der Zuziehung soll immer etwas Sinnvolles verbunden sein. Der Pflichtteilsberechtigte kann aber nur dann sinnvolle Hinweise geben, wenn er auch die Unterlagen kennt.
Das OLG München nimmt den Pflichtteilsberechtigten hingegen als Störfaktor wahr. Er könne das Verfahren verzögern und Geheimnisse des Erblassers ausplaudern. Die Verzögerung scheint mir kein ernstzunehmendes Argument zu sein, da der Pflichtteilsberechtigte einen Teil des Geldes möchte, das der Erbe hat. Wenn er das Verfahren verzögert, erhält er sein Geld nicht. Im Normalfall drängt der Pflichtteilsberechtigte auf Beschleunigung und der Erbe verzögert.
In Bezug auf Geheimnisse ist es die Natur eines Auskunftsanspruchs, dass auch Geheimnisse offenbart werden. Ich habe in meiner Praxis noch kein Geheimnis gesehen, das so schutzwürdig wäre, dass das transmortale Persönlichkeitsrecht beeinträchtigt sein könnte. Wenn das im Ausnahmefall so ist, muss man sich dann überlegen, wie man damit umgeht. Steuerhinterziehungen wegen Auslandskonten können aber zum Beispiel kein Grund sein, die Auskünfte zu verweigern. Der Erbe kann die Geheimnisse ebenso ausplaudern wie der Pflichtteilsberechtigte. Der Erblasser ist davor ohnehin nicht geschützt. Im Gesetz steht auch nicht, dass der Geheimnisschutz den Auskunftsanspruch des Pflichtteilsberechtigten beschränkt.
Aus meiner Sicht rechtfertigen es die Überlegungen des OLG München nicht, dem Pflichtteilsberechtigten die Möglichkeit zu nehmen, selbst anhand der Unterlagen auf weitere Nachlassgegenstände oder Schenkungen hinzuweisen. Die Sachverhalte sind in der Praxis teilweise wirklich schwierig und erfordern ein genaues Hinsehen und Erfahrungen. Nicht alle Notare - und erst recht nicht die von diesen beauftragten Mitarbeiter - sind in der Lage aus allen Unterlagen die richtigen Schlussfolgerungen zu ziehen und dabei nichts zu übersehen.
Einheitliches Nachlassverzeichnis
Nach dem Gesetz erhält der Pflichtteilsberechtigte ein (1) Nachlassverzeichnis. Die Rechtsprechung duldet auch mehrere Teilverzeichnisse, wenn das Ergebnis übersichtlich bleibt. Die Notarin hatte wohl mehrere Nachträge erstellt. Das OLG München billigte dies, allerdings mit der falschen Erwägung. Es führte aus, dass die Notarin keine andere Wahl habe, als spätere Erkenntnisse in einem Nachtrag zu beurkunden. Die Alternative wäre aber, dass das Nachlassverzeichnis korrigiert bzw. ergänzt und insgesamt neu ausgedruckt wird. Damit befasst sich das OLG München nicht. In keinem Fall darf die Situation entstehen, dass der Nachtrag zu dem vorherigen Verzeichnis in Widerspruch steht. Dann liegt keine übersichtliche Auskunft mehr vor.
Keine Rechtsbeschwerde?
Das OLG München ließ die Rechtsbeschwerde nicht zu. Aus dem veröffentlichten Beschluss ist auch nicht erkennbar, ob ein Richter oder drei Richter entschieden haben. Die Frage nach dem Einsichtsrecht des Pflichtteilsberechtigten ist eine seit Jahren streitige grundlegende Rechtsfrage. Also gilt:
§ 568 Originärer Einzelrichter
Das Beschwerdegericht entscheidet durch eines seiner Mitglieder als Einzelrichter, wenn die angefochtene Entscheidung von einem Einzelrichter oder einem Rechtspfleger erlassen wurde. Der Einzelrichter überträgt das Verfahren dem Beschwerdegericht zur Entscheidung in der im Gerichtsverfassungsgesetz vorgeschriebenen Besetzung, wenn
1. die Sache besondere Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art aufweist oder
2. die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat.
Auf eine erfolgte oder unterlassene Übertragung kann ein Rechtsmittel nicht gestützt werden.
§ 574 ZPO Rechtsbeschwerde; AnschlussrechtsbeschwerdeAlso: Entscheidung durch drei Richter und zwingende Zulassung der Rechtsbeschwerde. Alles andere verletzt den Pflichtteilsberechtigten in seinem Grundrecht auf den gesetzlichen Richter (Art. 101 S. 2 GG).
(1) Gegen einen Beschluss ist die Rechtsbeschwerde statthaft, wenn
1. dies im Gesetz ausdrücklich bestimmt ist oder
2. das Beschwerdegericht, das Berufungsgericht oder das Oberlandesgericht im ersten Rechtszug sie in dem Beschluss zugelassen hat.
§ 542 Abs. 2 gilt entsprechend.
(2) In den Fällen des Absatzes 1 Nr. 1 ist die Rechtsbeschwerde nur zulässig, wenn
1. die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat oder
2. die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts erfordert.
(3) In den Fällen des Absatzes 1 Nr. 2 ist die Rechtsbeschwerde zuzulassen, wenn die Voraussetzungen des Absatzes 2 vorliegen. Das Rechtsbeschwerdegericht ist an die Zulassung gebunden.
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